Ganz langsam und bedächtig streckte er die Hand aus nach den Sternen.

Er konnte ihr Licht spüren, das sein Gesicht in geheimnisvolle Schönheit tauchte. Er konnte auch den Sternenstaub fühlen, der auf seinem Haar schimmerte und auf seinen Lippen schmeckte er die Kühle der Nacht.

Ein Gefühl von Unendlichkeit umfing ihn, das Wissen ein Teil des Kosmos, ein Teil der Ewigkeit zu sein, wenn auch nur ein kleiner.

Er ließ seine Hand sinken und drehte sich um. Sein Blick streifte über sein Gepäck, das neben ihm auf dem Boden stand und über die Silhouette seiner Großstadt.

Er wollte nie wieder hierher zurückkehren. Schon vor langer Zeit hatte er diesen Entschluss gefasst und nun war der richtige Zeitpunkt gekommen.

Um Mitternacht würde er in den Zug steigen, der ihn in ein neues Leben führen sollte. Zur Jahrtausendwende wollte er das alte hinter sich lassen und wie die Welt bei eins beginnen....

 

 

Es war ein alter und kleiner Bahnhof und nicht besonders schön. Er war weder interessant noch von architektonischer Bedeutung. Hatte höchstens die Bedeutung eines alten Spielzeuges, das abgenutzt und oft geflickt in einer Ecke lag, weil das Kind von einst es nicht über das Herz brachte, dieses einmal geliebte Ding wegzuschmeißen.

Der Bahnhof stand dort ungerührt von den sich anbahnenden Ereignissen in der Nacht, nahm kleine Menschen auf und spuckte kleine Menschen wieder aus. Wie die Nacht zuvor und genauso wie er es in der folgenden Nacht tun würde, wie er es immer tat. Wartete auf die Züge, die ihn in der Nacht für kurze Zeit besuchen würden. Für manche Menschen war es ein Beginn, für andere ein Ziel. Für wieder andere nur ein alter, schmuckloser Bahnhof. Und doch spielte sich das ganze Leben in all seiner Vielfalt in ihm ab. Abschiede und Wiedersehen, erste Begegnungen und flüchtige Blicke, Freude und Trauer, Wut und Langeweile, Phantasie und Routine.

Und im grellen Neonlicht der Bahnhofshalle sah man schonungslos das Leben wie unter dem Mikroskop.

 

 

Das Ende des Jahrtausends rückte immer näher.

Doch was bedeutete dieser besondere Tag der menschlichen Zeitrechnung schon?

Was bedeutete er für die Tiere, die wie an jedem Tag einen Kampf auf Leben und Tod ausfochten?

Was für die Berge und Bäume, Flüsse und Seen, die Jahrtausende und Jahrmillionen überdauert hatten?

Und was für die Menschen, die auch an diesem Abend vor dem Schrecken des Krieges, von Krankheit und Not nicht verschont blieben?

Aus der Luft betrachtet lag die Stadt in völliger Ruhe und schmiegte sich in der Dunkelheit.

Aus der Luft betrachtet konnte man überhaupt eine Vielzahl von Lichtern sehen. Helle und gedämpfte, kalte und warme, weiße und bunte in vielen Nuancen.

Aus der Luft – und mit genügend Abstand betrachtet – verwandelte sich diese lärmige, geschäftige Großstadt in eine seltsame Wunderwelt.

Es war nicht mehr lang bis zum Jahreswechsel.

Die Menschen in den Häusern und auf den Straßen begegneten dem neuen Jahr ihren unterschiedlichen Gesichtern, unterschiedlichen Riten und unterschiedlichen Ansichten.

Wären in dieser Nacht Engel unterwegs, so hätten sie so vieles sehen können, viele Stimmen reden, lachen, fluchen, seufzen und singen hören.

Sie hätten verwundert herabgeblickt und versucht, in die Herzen und in die Köpfe der Menschen zu schauen um herauszufinden, was sie an diesem Abend bewegte, zusammenschweißte und doch voneinander fern - und fremd bleiben ließ.

Und die Engel wären nur kurze Zeit auf den Dächern und vor den Fenstern verweilt um sich dann wieder zu erheben, Schutz in den Wolken zu suchen.

Dann hätten sie sich einfach nur am Atem der Stadt erfreut und daran, wie das Knäuel der Schicksale und Leben ineinander verschmolz.

Doch diese Engel gab es nur in der Phantasie. In der guten Hoffnung der Menschen, die an sie glauben wollten.

 

 

Die alte Frau schaute aus dem Fenster. Der Mond und die Sterne verfolgten ihre Reise. Einer schien ihr zu zuzwinkern.

Sie lächelte.

Ihr Mann hatte immer gesagt, dass jeder, der stirbt als ein Stern am Himmelszelt erscheint, seine Sehnsucht erfüllt und nimmer mehr von der Zeit zu wissen beginnt...

 

 

„Weißt du, was Sterne sind, kleine Prinzessin?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Für jeden Menschen, der dich verlassen muss, geht am Himmel ein Licht auf, damit du ihn nie lange suchen musst und nie alleine bist.

Siehst du den hellen Stern dort?“ Er streckte die Hand nach ihm aus und sie folgte seiner Geste. „Dort werde immer ich sein.“

 

 

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